Protest als Motor für Veränderung

Vor genau 50 Jahren entstand in Wien die Programmatik der „Sanften Stadterneuerung“. Was heute als international anerkannter Ansatz für eine bestandsorientierte Handlungsstrategie gilt, war in den 1970er Jahren zunächst höchst umstritten. In vielen europäischen Städten wurde eine radikale Erneuerung ganzer Stadtteile – durch Abriss und Neubau – praktiziert. Auch in Wien gab es in der Nachkriegszeit erste Kahlschlagsanierungen, wie im „Fiakerviertel“ in Erdberg und in „Lichtental“ im Alsergrund. Bei weiteren geplanten Abrissprojekten regte sich allerdings Widerstand aus der Bevölkerung. So waren es maßgeblich zivilgesellschaftliche Proteste, die schließlich zu einer anderen Herangehensweise und zu einem Paradigmenwechsel auch in Politik und Verwaltung führten.

Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen Abriss und Neubau 
Im „Planquadrat“ in Wieden sollte in den 1970er Jahren eine ganze Häuserzeile abgerissen werden, um Platz für eine geplante Straßenverbreiterung zu schaffen. Zwei Journalist*innen führten Gespräche mit Bewohner*innen und veröffentlichten im Rahmen eines Dokumentarfilms deren Perspektiven. Die Bewohner*innen selbst begannen sich in einem Verein zu organisieren und – neben dem Erhalt der Wohnhäuser – auch die Gestaltung und Nutzung der bis dahin brachliegenden Innenhofflächen mit der Stadt Wien zu diskutieren. Über die mediale Kommunikation gelangten Fragen der Stadterneuerung ins Hauptabendprogramm des Fernsehens. So gelang es schließlich, den Abriss zu verhindern und Sanierungsmaßnahmen der Altbausubstanz in Gang zu setzen sowie verschiedene Grundstücke zu einem gemeinsam nutzbaren Gartenhof zusammenzuführen. Der Gartenhofverein im Planquadrat ist bis heute aktiv.

Auch am „Spittelberg“ in Wien Neubau war ursprünglich ein Abriss der historischen Bausubstanz geplant. Dagegen formierte sich eine lebendige Protestbewegung. Insbesondere viele junge Menschen – u.a. Studierende, Künstler*innen, Architekt*innen – engagierten sich aktiv für den Erhalt des Spittelbergviertels. Sie forderten auch die Einrichtung eines Kulturzentrums im heutigen Amerlinghaus. Mit der Interessensgemeinschaft Spittelberg sowie dem Zentrum Amerlinghaus entstanden zwei Vereine, die sich engagierten und auch miteinander kooperierten. Das Gebiet am Spittelberg wurde schließlich zur ersten „Schutzzone“ erklärt, bei der ein ganzes städtisches Ensemble als erhaltenswert eingestuft und unter Denkmalschutz gestellt wurde. Eine Neubewertung der Bedeutung der historischen Wiener Bausubstanz und neue Handlungsstrategien im Umgang mit dieser zeichneten sich ab. Die Wohnhäuser am Spittelberg wurden saniert. Das Amerlinghaus fungiert auch aktuell noch als Sozial- und Kulturzentrum und bietet Raum für unterschiedliche Initiativen.      

Der Beginn der Sanften Stadterneuerung in Wien Ottakring
Im Jahr 1974 – nachdem das Stadterneuerungsgesetz beschlossen worden war – wurde von der Stadt Wien ein erstes Pilotgebiet für Stadterneuerung eingeführt. Rund um die Wichtelgasse in Wien Ottakring sollten neue Herangehensweisen für einen gründerzeitlichen Stadtteil gefunden werden. Diesmal waren es Mitarbeiter*innen der Stadt selbst, die sich vor Ort begaben und nach einer strukturellen Analyse des Gebiets in vielen persönlichen Gesprächen die Anliegen und Vorstellungen der Wohnbevölkerung einholten. Dabei ging es um Verbesserungen von Wohnsituationen – um Substandard zu beseitigen und Sanitärinstallationen in die Wohnungen zu bringen oder um Barrierefreiheit zu ermöglichen – aber auch um Maßnahmen im Wohnumfeld. So entstand u.a. die erste Wohnstraße und die erste Baumpflanzung im Straßenraum. Mit der Eröffnung eines Informationslokals vor Ort war es zudem die Geburtsstunde der Gebietsbetreuung, die als Ansprechstelle im Gebiet verankert wurde.

Die Klimabewegung heute als potenzieller Motor für gesellschaftlichen Wandel
Heute bewegen u.a. der Klimawandel und nachhaltigere Klimaschutzstrategien unsere Gesellschaft. Soziale Bewegungen wie die Klimabewegungen haben sich zusammengeschlossen und agieren mit vielfältigen Aktionsstrategien, um Öffentlichkeit und Politik zu adressieren. Auch wenn sich einzelne Aktivist*innen auf Straßen kleben und bei manchen für Unmut sorgen, sollte die aktuelle Klimabewegung nicht kriminalisiert werden. Mit einem aufmerksamen Blick auf die Geschichte könnte sie vielmehr als Hoffnungsträgerin und potenzieller Motor für eine erneute gesellschaftliche Veränderung gesehen werden – im Umgang mit unserer Umwelt und damit verbundenen sozialen Fragen.

Literaturtipp:
Feuerstein, Christiane; Fitz, Angelika (2009): Wann begann temporär? Frühe Stadtinterventionen und sanfte Stadterneuerung in Wien. Wien: Springer.

Veranstaltungstipp:
Veranstaltungsreihe Walks & Talks „50 Jahre Sanfte Stadterneuerung in Wien"

Abbildung: Amerlinghaus 1975 © unbekannt. Privatarchiv Christoph Reinprecht.